Alles andere als eine Wohlstandskrankheit
Armut und psychische Krankheit hängen stark zusammen. Schweizer Statistiken belegen dies hinreichend. Darum ist die fehlende Verknüpfung von Armuts- und Gesundheitspolitik eine verpasste Chance.
Gemäss Schätzungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan erkranken vier von fünf Person in der Schweiz in ihrem Leben an einer psychischen Erkrankung und über ein Drittel an einer Depression. Mit letzterer kämpfen pro Jahr über 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz, während eine halbe Million Menschen mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Gemessen an ihrem breiten Vorkommen erfahren psychische Erkrankungen und ihre potenziellen gesellschaftlichen Auslöser wenig Aufmerksamkeit. Und dies, obwohl für die WHO feststeht: Das Risiko auf eine psychische Erkrankung ist höher, je tiefer der sozio-ökonomische Status ist. Wer arm ist, ist eher krank, und wer krank ist, hat ein höheres Risiko, arm zu sein.
Psychische Beschwerden sind keine Wohlstandskrankheit
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Personen, die etwa aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Invalidität ohne Arbeit sind. Ihr Risiko, von psychischen Beschwerden betroffen zu sein, ist bis zu dreieinhalbmal höher als jenes der Gesamtbevölkerung. Das Risiko nimmt mit steigendem Alter nochmals zu; bei den 50- bis 64-Jährigen gibt sogar jede und jeder zweite Erwerbslose an, psychische Beschwerden zu haben. Und auch das Bildungsniveau hat einen entscheidenden Einfluss auf das Risiko, an einer Depression zu erkranken. Ohne Berufsbildung ist dieses fünfmal höher als mit Tertiärausbildung. Es handelt sich bei psychischen Beschwerden also keineswegs um Wohlstandskrankheiten, im Gegenteil.
Prekäre Lebensverhältnisse verstärken psychische Belastung
Weshalb halten sich diese gesundheitlichen Ungleichheiten trotz obligatorischer Krankenversicherung und einem ausgebauten System der sozialen Sicherheit so hartnäckig? Hierfür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Eine Ursache sehen Forschende darin, dass sowohl psychische Krankheit als auch Armut oft durch Verkettungen widriger Ereignisse im Lebenslauf auftreten können. Gerade die armutstypische prekäre Lebenssituation führt zu vielschichtiger Mehrbelastung. So ist Armut meist begleitet von finanziellen Sorgen und grösserer Unsicherheit und Instabilität.
Hinzu kommt vermehrte soziale Ausgrenzung, denn auch ein Kinobesuch oder das Treffen im Café sind oft zu teuer. Betroffene erleben somit grösseren Stress und Anspannung, zugleich fehlen aber Geld und Zeit für notwenige Erholung, Ausgleich und das Pflegen sozialer Kontakte – allesamt Faktoren, die für psychische Gesundheit und Problembewältigung essenziell sind.
Eine Studie zum Gesundheitsbefinden von IV-Beziehenden zeigt etwa, dass über 40% derer, die noch keine neue Arbeitsstelle gefunden haben, an Schlafschwierigkeiten, Müdigkeit und Energielosigkeit leiden. Auch enge Wohnverhältnisse können Konflikte befeuern und es fehlt an Rückzugsraum für die Erholung. Zunehmende Armut kann aber auch mit Scham und sinkendem Selbstwertgefühl verbunden sein und vom Bewusstsein zunehmender Handlungsunfähigkeit begleitet sein.
Andersrum kann eine psychische Erkrankung ein Auslöser für Armut sein. So erkrankt mittlerweile jede vierte Person in der Schweiz an einer psychischen Krankheit in einem Ausmass, dass sich dies auf ihre Arbeitsfähigkeit auswirkt. Zudem nutzen ärmere Menschen in der Schweiz verhältnismässig seltener Gesundheitsleistungen als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Armut und Gesundheit zusammen denken
Die Studienergebnisse verdeutlichen die Relevanz von Armutsbetroffenen als Zielgruppe für gesundheitspolitische Massnahmen. Dennoch setzt die Gesundheitspolitik primär auf Eigenverantwortung und individuelle Verhaltensänderung, soziale Umstände bleiben aussen vor.
Solange strukturelle Armut in der Prävention von psychischen Krankheiten und Suizid ein blinder Fleck bleibt, verfehlt sie ihr Ziel, mit potenziell lebensgefährlichen Folgen. Eine kombinierte Sicht auf Armut und psychische Gesundheit ist für eine wirksame Armuts- und Gesundheitspolitik unabdingbar.
Notwendig ist aber auch eine stärkere Analyse von Armut als Krankheitsursache. Die Schweiz braucht ein Monitoring, welches die Auswirkungen der sozioökonomischen Umstände auf die psychische Gesundheit vertiefter erfasst. Nur so kann die Grundlage für eine effektive Prävention geschaffen werden.
Geschrieben von Agnes Jezler
Titelbild: Finanzielle Hilfe und Beratung haben Marília geholfen, wieder auf Kurs zu kommen. Geholfen hat ihr auch ihre eigene psychische Stärke. © Ghislaine Heger