Armut trotz Vollbeschäftigung ‒ das sind die Gründe

305'000 Menschen leben in einem Working-Poor-Haushalt

In der Schweiz ist die Arbeitslosigkeit auf unter 2 Prozent gesunken. Doch diese gute Nachricht hat eine Kehrseite: Bei weitem nicht alle, die eine Erwerbsarbeit ausüben, können damit auch ihre Existenz sichern. Gleichzeitig bereiten die teureren Lebensmittelpreise und Mietkosten immer mehr Sorge.

In der Schweiz herrscht Vollbeschäftigung, informierte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) kürzlich. Dieser ökonomische Begriff trifft nach allgemeinem Verständnis bei der aktuellen Arbeitslosenquote von 1,9 Prozent zu. Erwerbsarbeit ist die wichtigste Basis für die Existenzsicherung in der Schweiz. Das gesellschaftliche Versprechen, dass eine bezahlte Arbeit zum Leben reicht, wird aber in erschreckend vielen Fällen nicht eingelöst.

Die neuesten Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen: 40 Prozent aller Armutsbetroffenen in der Schweiz leben in einem Haushalt, in dem ein Erwerbseinkommen erzielt wird. 157‘000 Personen sind gemäss dieser Statistik selbst erwerbstätig und gleichzeitig arm. Von ihren ungenügenden Löhnen hängt aber oft die Existenz weiterer Personen ab, insbesondere von Kindern und nicht erwerbstätigen Partnerinnen und Partnern. So verdoppelt sich die Zahl: 305‘000 Menschen leben in der Schweiz unter der Armutsgrenze, obwohl mindestens eine Person im Haushalt einer Erwerbsarbeit nachgeht.

Was sind die Gründe für diese hohe Zahl von Working Poor? Zum einen liegt dies an den Arbeitsbedingungen. Niedriglöhne, atypische Beschäftigungsformen wie Arbeit auf Abruf, befristete Arbeitsverträge sowie bestimmte Formen von selbstständiger Arbeit in prekären Bereichen sind dafür verantwortlich, dass am Ende des Monats kein ausreichendes Einkommen zusammenkommt.

Zum andern spielt die Lebenssituation eine wichtige Rolle. Oft sind gerade Familien Working Poor, weil sie Erwerbsarbeit und Betreuung unter einen Hut bringen müssen und weil Kinder hohe Kosten mit sich bringen. Betroffen sind insbesondere auch Haushalte, in denen Frauen die Hauptlast für das Einkommen tragen.

Vier Kantone leisten bereits Hilfe

Das Bundesamt für Statistik zeigt ebenso auf, dass sich die Zahl der betroffenen Personen mehr als verdoppelt, wenn Haushalte knapp über der Armutsgrenze dazugezählt werden. Die aktuell massiven Kostensteigerungen bei den Krankenkassen, Lebensmitteln, der Energie und den Mieten sind gerade für diese Haushalte eine besondere Gefahr. Sind sie bisher noch knapp über die Runden gekommen, sehen sie sich jetzt mit Rechnungen konfrontiert, die sie nicht mehr begleichen können.

Eine Entlastung für diese Haushalte ist unabdingbar, sonst steigt die Zahl der Working Poor bald an. Es gibt zahlreiche Rezepte, mit denen die Politik diese Menschen besser unterstützen kann: Höhere Individuelle Prämienverbilligung, Familienergänzungsleistungen, wie sie heute bereits die Kantone Waadt, Genf, Solothurn und Tessin kennen, sowie die Förderung günstigen Wohnraums. Zentral ist ebenso, dass Löhne ausbezahlt werden, die zum Leben reichen. Dazu braucht es eine Diskussion über einen Mindestlohn auf nationaler Ebene sowie existenzsichernde Arbeitsmodelle mit einer genügenden sozialen Absicherung. Wer prekäre Arbeitsverhältnisse zulässt, erntet Working Poor.

Geschrieben von Stefan Gribi

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Titelbild: © Dominic Wenger