Auch ein Jahr nach dem Erdbeben ist die Not gross
Das Erdbeben vom 6. Februar 2023 traf im Norden Syriens eine Region, die bereits seit Jahren unter den Folgen des Kriegs litt. Die Naturkatastrophe hat das Leid noch vergrössert: 95 Prozent der Menschen leben heute in Armut. Auch Hilfsorganisationen wie Caritas Schweiz stellte das Beben vor unerwartete Herausforderungen.
Mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala hat das Erdbeben in den frühen Morgenstunden des 6. Februars 2023 das Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei getroffen. Allein in Syrien verloren 6ʼ392 Menschen ihr Leben, 11ʼ829 wurden verletzt. Unzählige Häuser wurden zerstört oder so stark beschädigt, dass über 170ʼ000 Personen auf einen Schlag kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Dies bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Heute, ein Jahr nach der verheerenden Naturkatastrophe, ist die Lage in Syrien immer noch desaströs. Ganze Dörfer und Stadtteile liegen in Trümmern, wobei für Aussenstehende kaum zu unterscheiden ist, welche Zerstörung das Erdbeben verursacht hat und welche der Krieg, der seit 2011 tobt.
In der Bevölkerung grassierte schon vor dem Erdbeben die Armut und die Arbeitslosigkeit war hoch. Das Beben verschlimmerte die Lage zusätzlich. Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation der UN mit Sitz in Genf zeigt, dass im August 2023 rund 95 Prozent der Befragten unter Armut litten. Über die Hälfte der Haushalte hatte ein tieferes Einkommen als 30 Dollar im Monat.
«Die Menschen kämpfen ums tägliche Überleben», bestätigt Martin Hiltbrunner, Programmverantwortlicher Syrienkrise bei Caritas Schweiz. Ein Grossteil der Bevölkerung schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Für Kinder ist die Situation besonders folgenschwer, da sie häufig zum Haushaltseinkommen beitragen und arbeiten müssen. Viele Mädchen werden ausserdem früh verheiratet. «Wir beobachten verschiedenste Anzeichen einer Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit», sagt Hiltbrunner.
«Das Erdbeben ist eine Krise in der Krise – viele können diese Zusatzbelastung nicht mehr tragen.»Martin HiltbrunnerProgrammverantwortlicher Syrienkrise bei Caritas Schweiz
Schwierige Rahmenbedingungen für Hilfeleistung
Gründe, wieso die humanitäre Not auch ein Jahr nach dem Erdbeben derart gross ist, gibt es viele. Die Wirtschaft in Syrien liegt weitestgehend brach, die öffentliche Infrastruktur befindet sich teilweise in einem desolaten Zustand. Heizöl ist beispielsweise rationiert. Eine Familie erhält höchstens 50 Liter pro Winter. Diese ohnehin schon ungenügende Menge ist aufgrund der beschränkten Verfügbarkeit in den Verteilstellen für viele Haushalte nie erhältlich, worunter die Bevölkerung zusätzlich leidet.
Auch die sprunghafte Inflationsrate setzt den Menschen zu und stellt ebenso internationale Hilfswerke vor Herausforderungen. Dies spürt die Caritas zum Beispiel bei der Sanierung von Schulhäusern und Wohngebäuden: Baufirmen bekunden grosse Mühe, verlässliche Offerten zu erstellen, weil die syrische Lira stark an Wert verliert und sich damit die ursprünglich berechneten Preise für Material und Löhne nicht mehr rechnen. Trotz der schwierigen Planbarkeit fokussiert sich Caritas Schweiz nun auf langfristigere Unterstützung, welche nachhaltig anhalten soll. Ein neues Projekt setzt bei verschiedenen Ebenen an: Besonders vulnerable Personen werden geschult, um ein eigenes kleines Geschäft wie einen Kiosk oder eine Näherei zu eröffnen. Gleichzeitig erhalten sie ein Startkapital, bis ihr Unternehmen stabil genug ist und einen Gewinn abwirft. Über den ganzen Prozess werden sie eng von Mentorinnen und Mentoren begleitet.
«Mit langfristigen, gut auf die Bedürfnisse abgestimmten Projekten kann es gelingen, die Armut in Syrien Schritt für Schritt zu bekämpfen. Wir möchten den Menschen wieder eine Perspektive geben.»Martin HiltbrunnerProgrammverantwortlicher Syrienkrise bei Caritas Schweiz
Geschrieben von Niels Jost, Mitarbeiter Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, Caritas Schweiz
Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch
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Titelbild: © Hasan Belal