Der Mensch steht im Zentrum, auch wenn es schnell gehen muss
Die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und im Sudan haben die grössten humanitären Krisen dieser Zeit entfacht. Mittendrin: die Caritas. Sarah Buss leitet die Katastrophenhilfe und gibt einen Einblick, wie die Hilfe möglichst rasch bei den Menschen in Not ankommt.
Die Bilder gehen um die Welt: Am 24. Februar 2022 marschiert Russland in die Ukraine ein. Sofort ist klar: Humanitäre Hilfe wird in grossem Mass benötigt. Um Leben zu retten, zählt jetzt jede Sekunde.
Sarah Buss, tritt eine Katastrophe ein, muss es schnell gehen. Wie stellt die Caritas dies sicher?
Bei einer humanitären Krise setzen wir alle Hebel in Bewegung. Unser Katastrophen-Stab verschafft sich einen Überblick: Wie gross ist das Ausmass der Katastrophe? Wer ist betroffen? Haben wir Zugang zu dem Gebiet? Antworten liefern uns unsere Mitarbeitenden vor Ort oder
andere Hilfsorganisationen.
«In einer Katastrophe hat die Versorgung der Verletzlichsten erste Priorität.»
Woher kommen die Hilfsgüter? Besitzt die Caritas in der Schweiz ein Lagerhaus und Transportflugzeuge?
Nein, das wäre viel zu kostspielig. Um die Reaktionsdauer tief zu halten, lagert die internationale Gemeinschaft weltweit an strategisch wichtigen Orten Hilfsgüter. Wann immer möglich, werden diese vor Ort eingekauft, um die lokale Wirtschaft zu stärken und Transportwege kurz zu halten.
Am 24. Februar 2022 wurden noch in der Nacht die ersten Meldungen über den Kriegsausbruch in der Ukraine publik. Wie lange dauerte es, bis die Caritas aktiv wurde?
Unser Ziel ist es, bei einer Krise innert 72 Stunden vor Ort einsatzfähig zu sein. In der Ukraine waren wir es bereits am Morgen nach dem Angriff.
Wie war das möglich?
Wir hatten alle Szenarien der Gewalteskalation durchgespielt. Unsere lokalen Partner – Caritas Ukraine und Caritas Spes – hatten schon Monate im Voraus Notvorräte angelegt, ein Netzwerk aufgebaut und Evakuierungspläne erstellt. Wir trainieren zudem regelmässig den Ernstfall und schulen unsere Mitarbeitenden.
Die Ukraine erhält so viel Unterstützung aus der Schweiz wie kein anderes Land – obwohl die Bedürfnisse anderswo nicht kleiner sind. Wie erklären Sie sich das?
Die Ukraine liegt uns geografisch und kulturell nahe. Das erzeugt viel Aufmerksamkeit in den Medien, der Politik und bei Behörden. Das ist durchaus positiv, dadurch geraten aber unweigerlich andere Krisen aus dem Blickfeld. Der Sudan-Konflikt zum Beispiel hat aktuell zur grössten Hungersnot der Welt geführt, es gibt unzählige Opfer und fast neun Millionen Vertriebene. Doch in der Schweiz ist davon kaum die Rede. Das macht es schwierig, Spenden zu sammeln, auf die wir angewiesen sind, um handeln zu können.
Dennoch konnte Caritas Schweiz im Sudan-Konflikt bislang zwei Projekte finanzieren. Um was geht es?
Wir sind im benachbarten Südsudan in einem Flüchtlingslager und in einer Grenzstadt tätig. Mit unseren Partnerorganisationen unterstützen wir vor allem Frauen und Kinder: Wir verteilen Nahrungsmittel und kleine Bargeldbeiträge, leisten psychologische Hilfe und bieten eine sichere
Bleibe.
«Bei einer Krise sind wir innert 72 Stunden einsatzfähig.»
Wie entscheiden Sie, wer Hilfe erhält und wer nicht?
In der Katastrophenhilfe hat die Versorgung der Verletzlichsten erste Priorität. Um die Bedürfnisse abzuklären, befragen wir die Menschen zum Teil direkt und sind mit anderen Hilfsorganisationen im Austausch. So klären wir, wer den grössten Bedarf hat, welche Art von Unterstützung nötig ist und koordinieren Massnahmen. Aber: In Gaza sind etwa
95 Prozent der rund zwei Millionen Menschen in grosser Not – um diese zu lindern, braucht es das Engagement verschiedenster Organisationen.
Wie sieht die Absprache mit anderen NGOs aus?
Gerade im Krisenfall ist eine umfangreiche Koordination elementar, um Prioritäten richtig zu setzen und zu klären, wer welche Hilfe am schnellsten erbringen kann. Dies geschieht in sogenannten «Clustern», die meistens nach Themen organisiert und von den Vereinten Nationen
koordiniert werden. In vielen Regionen tauschen sich lokale und internationale NGOs bereits vor einer Krise in diesen Clustern regelmässig aus.
Die Arbeit in einem Kriegsgebiet ist sehr herausfordernd. Wo stösst die Caritas an ihre Grenzen?
Wenn die Sicherheit der Mitarbeitenden gefährdet ist. Deshalb verfügen wir über ein umfangreiches Sicherheitskonzept. Zudem hilft es, lokal verankert zu sein.
Das müssen Sie erklären.
Wir arbeiten bei unseren Projekten mit lokalen Mitarbeitenden und Partnern zusammen. Sie kennen die Bedürfnisse vor Ort, sprechen dieselbe Sprache und geniessen das Vertrauen der Bevölkerung. So kommt es dann auch immer wieder vor, dass wir von Anwohnenden Tipps erhalten,
etwa zu gefährlichen Routen, die wir besser meiden sollten.
Führt das denn nicht dazu, dass man parteiisch wird?
Als humanitäre Hilfsorganisation haben wir uns der Unparteilichkeit verpflichtet. Wir unterstützen Menschen in Not, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Der individuelle Mensch steht bei uns immer im Zentrum.
Weitere Informationen
Titelbild: In der Ukraine konnte die Caritas die Menschen unmittelbar nach Ausbruch des Krieges mit dem Nötigsten versorgen, wie hier an der Grenze zur Republik Moldau. © Martijn Fidder / Caritas Deutschland