Die Schweiz verpasst die Chance für eine kritische Auseinandersetzung über nachhaltige Entwicklung
Am 12. Juli wird der Bundesrat vor der UNO in New York darstellen, wie die Schweiz die UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung umsetzt. Der Bericht soll Fortschritte und Herausforderungen bezüglich einer nachhaltigen Entwicklung der Schweiz benennen. Leider gestaltet sich der Bericht sehr oberflächlich – und es fehlt eine kritische Auseinandersetzung damit, wo die Schweiz konkret Nachholbedarf hat.
Das Jahr 2022 ist die Halbzeit zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Dazu präsentiert die Schweiz vor der UNO in New York ihren zweiten Länderbericht. Er soll erläutern, wo die Schweiz in der Umsetzung der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDG Sustainable Development Goals) steht. Der Länderbericht «Agenda 2030 und die Schweiz» bietet zunächst einen guten Überblick über die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Zu begrüssen ist auch, dass die Schweiz bekräftigt, die UNO-Agenda 2030 mit ihren Zielen als den zentralen Referenzrahmen zu betrachten, um die Welt sozialer, ökologischer und friedlicher zu gestalten. Der Rest jedoch gleicht einer Tourismus-Hochglanzbroschüre und lässt jegliche Tiefe vermissen. Auch fehlen konkrete Ziele oder Massnahmen, wie ein Ziel erreicht werden soll.
Kein Ziel zur Armutsreduktion
Zum Beispiel lautet das erste Ziel der UNO-Agenda 2030, dass die Armut in all ihren Formen und überall beendet werden soll. Die Schweiz weist zwar darauf hin, dass die Armutsquote im Inland auch im Jahr 2019 wieder gestiegen ist. Sie setzt sich aber weder ein konkretes Reduktionsziel, noch weist sie auf konkrete Massnahmen hin, wie die Armut in der Schweiz reduziert werden soll. Anstatt auf dringend notwendige Investitionen im Bildungsbereich oder zur Vereinbarung von Beruf und Familie zu verweisen, hebt sie im Gegenteil als Herausforderung die nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherungen hervor. Gerade Kürzungen bei den Sozialversicherungen haben aber in der Vergangenheit zu mehr Armut geführt. Die Kürze des Berichts und die Ausführungen zu den einzelnen Zielen sorgen für ein Durcheinander von Kraut und Rüben. So wird als anzustrebende Armutsreduktionsmassnahme auch gleich noch ein verbesserter Katastrophenschutz untergebracht.
Die Bundesebene genügt nicht
Armutspolitik wird in den Kantonen gemacht. Darum wäre es in einem Schweizer Länderbericht unumgänglich, eine ausführliche Berichterstattung der Kantone miteinzubeziehen. Stattdessen werden praktisch nur Aktivitäten auf Bundesebene zusammengestellt und nur einzelne Beispiele, die gerade passen, von Kantonen und Städten verwendet. Der Bund verweist auf seine Zusammenarbeit mit den kantonalen Fachstellen für Nachhaltigkeit. Diese Stellen sind jedoch nur mit wenig Ressourcen ausgestattet und können niemals die Bandbreite einer nachhaltigen kantonalen Politik, die fast sämtliche Politikfelder umfasst, abdecken.
Widersprüche benannt – aber Handlungsansätze fehlen
Zum ersten Mal geht dieser zweite Länderbericht auf sogenannte Trade-offs ein, also auf die Tatsache, dass sich unterschiedliche Ziele sehr wohl widersprechen können. Diese Bemühungen sind im Grunde genommen positiv, sie versanden dann aber schnell wieder im Unkonkreten. So wird im Kapitel zur Armut zu Recht darauf hingewiesen, dass der hohe Lebensstandard der Schweiz nicht nachhaltig ist. Wir würden dreimal mehr Umweltdienstleistungen und -ressourcen verbrauchen als uns gemäss global gerechnetem Kontingent zustehen. Der Vorschlag, diesen Missstand zu beheben, lautet denn auch wie folgt: «Der Schlüssel zur Veränderung liegt in einem neuen Wohlstandsverständnis, mit ressourcenleichterem Konsum und nachhaltigeren Produktionsansätzen». Diese Erkenntnis ist richtig. Es sind jedoch keine Massnahmen und keine Akteure benannt, wie wir in der Schweiz zu einem nachhaltigeren Konsum und Produktion gelangen.
Insgesamt zeigt der Länderbericht, den die Schweiz in New York vorstellen wird, dass die Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung in der Schweiz noch viel zu wenig bekannt und verankert ist. Die Schweiz hat noch acht Jahre Zeit, um dies zu ändern. Dazu müssen nebst den Kantonen, Städten und Gemeinden auch die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft, die Jugend und die Wirtschaft noch viel aktiver eingebunden werden. Ohne eine lebhafte Debatte und konkrete Entscheidungen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung auf kantonaler und Bundesebene kann sich die Schweiz kein gutes Zeugnis ausstellen lassen.
Geschrieben von Marianne Hochuli
Titelbild: Agenda 2023 © Silvia Rohrbach