Libanon: ein ganzes Volk versinkt in der Armut
Die Situation im Libanon ist äusserst prekär. Die Regierung ist den komplexen Herausforderungen nicht mehr gewachsen, den Menschen fehlt es an allem. Die Löhne verlieren durch die Inflation täglich an Wert - falls man überhaupt einen Job hat -, Lebensmittel sind fast unerschwinglich, Medikamente fehlen, Strom gibt es nur ein paar Stunden am Tag. Sarah Omrane von Caritas Schweiz im Libanon beantwortet sechs Fragen.
Wie würden Sie die jetzige Situation im Libanon beschreiben? Was passiert in Ihrem Land?
Der Libanon steckt in der grössten finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Krise seiner Geschichte. Dies ist die Folge einer ganzen Reihe von Geschehnissen der letzten Jahre. 2019 kollabierte nahezu der ganze Bankensektor, als der seit 1997 feste Wechselkurs des libanesischen Pfunds zum US-Dollar entkoppelt wurde. Das libanesische Pfund hat seither 90% seines Wertes verloren. Der Mindestlohn ist weniger als ein Zehntel so viel wert wie vor der Krise. Viele Restaurants und Cafés mussten in dieser Zeit schliessen und Tausende verloren ihre Arbeit. Nur noch wenige haben ein einigermassen stabiles Einkommen, darunter meist Arbeiter, Lehrerinnen und Pflegende im Gesundheitssystem. Sie werden allerdings in Libanesischen Pfund bezahlt, das täglich an Wert verliert. Die Arbeitslosenquote ist insgesamt sehr hoch.
Die Armut ist durch die Pandemie noch weiter angestiegen. Aktuell leben 78% der Libanesen unter der Armutsgrenze. Bei den Zugezogenen – Flüchtlinge aus Syrien und Palästina, Fremdarbeiter – fristen 89% ihre Existenz gar in extremer Armut. Die meisten Menschen können sich heute Grundnahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs kaum mehr leisten, da die Preise stark angestiegen sind. Zudem hat die Regierung alle Subventionen auf lebenswichtige Güter fallen lassen – Weizen, Treibstoff, Erdölprodukte und Medikamente. Viele Familien müssen drastische Massnahmen ergreifen, um ihre Ausgaben auf ein Minimum zu reduzieren: Sie nehmen die Kinder aus der Schule, kaufen keine Medikamente für chronische Krankheiten mehr und verschieben dringende Operationen.
Was trug weiter zur Verschlimmerung der Lage bei?
Da das Land zu wenig Dollarreserven hat, mangelt es an allem, vor allem an Treibstoff. Dies hat zur Folge, dass die Menschen nicht zur Arbeit fahren können, im Winter ihre Wohnungen nicht heizen können. Die Regierung stellt die Stromversorgung nur während 2 bis 6 Stunden im Tag sicher. Viele Leute beziehen deshalb Strom von privaten Generatoren. Aufgrund der hohen Treibstoffpreise ist dies jedoch sehr teuer, immer weniger Familien können sich diesen Strom leisten.
Das Energieproblem betrifft alle: Privatpersonen, Unternehmen, den öffentlichen Sektor sowie das Gesundheitswesen. Der Gesundheitssektor ist am Rande des Kollapses, die Spitäler kämpfen ums Überleben. Die Sozialversicherungen übernehmen höchstens noch 10 Prozent der Behandlungskosten – früher waren es 80 bis 85 Prozent. Viele Menschen haben deshalb keinen Zugang mehr zur Gesundheitsversorgung.
Die Regierung ist mit den komplexen Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen schlicht überfordert. Dem Internationalen Währungsfonds konnte noch kein Plan vorgelegt werden, den er gutheissen konnte, um das Land und seine Leute zu unterstützen. Die meisten öffentlichen Dienste bestehen nicht mehr. Wen wundert es deshalb, dass die Kriminalität im Land steigt. Es gibt viele Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Diebstähle und Einbrüche häufen sich. Die Menschen fühlen sich nicht mehr sicher.
Was sind die Langzeiteffekte der Explosion im Hafen von Beirut?
Beirut war vorher eine der Regionen mit dem höchsten Lebensstandard im Libanon und eine wichtige Stütze der Wirtschaft. Hier waren die meisten Geschäfte, Banken, Schulen und Spitäler angesiedelt. Beirut – und auch der ganze Libanon – war für Touristen und Geschäftsleute aus aller Welt attraktiv. Das Land mit seiner strategischen Lage bot schöne Landschaften und Komfort. Die Explosion hat all dies buchstäblich zerstört. Es wird Jahre dauern, bis Gebäude und Strassen wieder instand gestellt sind. Fast noch grösser als der finanzielle Verlust sind hingegen die Auswirkungen der Explosion auf die Psyche der Menschen. Viele leiden mental und emotional. Tausende haben das Land verlassen. Diejenigen, die geblieben sind, werden täglich an die Katastrophe erinnert. Die Leute, die sowieso schon müde, enttäuscht, frustriert und ausgelaugt sind, leiden nun auch noch unter posttraumatischem Stress und erschrecken bei jedem lautem Geräusch.
Was tut Caritas, um zu helfen? Kann sie die Not lindern?
Caritas leistet sofortige Nothilfe sowie Hilfe auf längere Frist. Mit Bargeldzahlungen hilft sie besonders vulnerablen Familien, ihre Grundbedürfnisse zu decken und – teilweise – Spitalkosten zu bezahlen. Sie unterstützt auch mit psychologischer Beratung. Zudem schafft die Caritas Einkommensquellen, indem sie den ärmsten Familien Arbeitseinsätze gegen Cash anbietet. Junge Menschen sollen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Dabei bietet Caritas ein individuell abgestimmtes Paket an: berufliches Training, bezahlte Praktika und das Üben von Soft Skills.
Wie vermeidet Caritas, dass Missgunst und Feindseligkeit zwischen der libanesischen Bevölkerung und den 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen entstehen?
Der Libanon hat 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten (fast 90%) leben in extremer Armut. Aber auch die libanesischen Familien rutschen immer tiefer in die Armut ab. Beide Bevölkerungsgruppen sind also auf Hilfe angewiesen. Caritas sichert ab, dass alle den gleichen Zugang zu Projekten und Dienstleistungen haben. Die Projekte richten sich nach den konkreten Bedürfnissen der Zielgruppen. Zudem kommuniziert Caritas klar und transparent mit allen Teilnehmenden, ihre Projekte halten die grundsätzlichen humanitären Standards ein.
Spüren Sie im Libanon bereits die Folgen des Ukraine-Krieges?
Der Libanon ist abhängig von importiertem Weizen. 66% davon stammen aus der Ukraine, 12% aus Russland. Vor ein paar Tagen wurde das Brot rationiert, der Brotpreis stieg innert weniger Tage um 20%. Die Weizenreserven reichen nur noch für drei Wochen, da die Lagerkapazitäten seit dem Blast im Hafen nur noch 50% betragen. Eine Ernährungskrise scheint in dem sonst schon gebeutelten Land unausweichlich.
Geschrieben von Lisa Fry, Anna Haselbach
Titelbild: Sarah Omrane, Programm-Managerin Libanon von Caritas Schweiz © Ghislaine Heger