Neustart auf «La Pista»
Die politische und humanitäre Krise zwingt in Venezuela Millionen von Menschen zur Flucht. Im grössten Flüchtlingslager Kolumbiens leistet die Caritas wirksame Unterstützung – von der Grundversorgung bis zur beruflichen Weiterbildung.
Die Hufe des Esels klappern über die holperige Piste. «Wasser, Wasser, Wasser», ruft ein Junge vom Fuhrwerk, den das Tier zieht. Der Knabe treibt seinen grauen Freund von Hütte zu Hütte und verkauft Wasser, das er nach «La Pista» gekarrt hat. Rund 15 000 Menschen leben hier, «La Pista» ist das grösste Flüchtlingslager Kolumbiens. Audina Uriana (39) lässt sich vom Jungen ihren Kanister füllen, um wieder waschen und kochen zu können. «Das ist die Wasserversorgung, die wir hier haben», sagt die gebürtige Venezolanerin beiläufig – als ob das kein Klagen wert sei.
Krise treibt venezolanische Bevölkerung in die Flucht
Vor fünf Jahren hat die dreifache Mutter ihr Zuhause im venezolanischen Maracaibo verlassen. In der alten Heimat sah sie keine Zukunft mehr. Als wegen der fortschreitenden Krise ihre Stelle im Callcenter eines Autohändlers verloren ging, fand die alleinerziehende Mutter keinen anderen Job, mit dem sie ihre Familie hätte durchbringen können. Tatsächlich ist selbst der Lohn jener Menschen, die noch eine Anstellung haben, kaum mehr etwas wert: Schuld ist die Hyperinflation.
«Wir lernen eine einfache Buchhaltung zu führen und den Umgang mit den Finanzen eines Mikrounternehmens.»
Diese ist eine der verheerenden Folgen der jahrelangen Misswirtschaft, die ab 2013 mit dem Amtsantritt von Präsident Nicolás Maduro Venezuela in eine politische und humanitäre Krise stürzte. Immer mehr Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken, Mangelernährung ist weit verbreitet und die Gesundheitsversorgung in einem katastrophalen Zustand. Die Wirtschaft schrumpft.
Audina Uriana gehört zu den über sieben Millionen Menschen, die ihr Heimatland Venezuela deshalb verlassen haben. Wie knapp drei Millionen dieser Geflüchteten lebt Audina Uriana nun in Kolumbien. Zusammen mit Tausenden von Landsleuten ist sie in Maicao im Norden Kolumbiens auf «La Pista» gestrandet. So wird der vor vielen Jahren stillgelegte Flughafen genannt. Von der ehemaligen Flugpiste von Maicao ist nur noch ein Flickwerk übrig, auch der Kontrollturm und weitere Gebäude stehen nicht mehr. Schätzungen gehen von über 2000 Familien aus, die hier nur leben.
Prekäre Lebenssituation der Geflüchteten
Als 2016 und 2019 besonders viele Menschen Venezuela verliessen, begannen die Geflüchteten auf dem ungenutzten und unbewachten Gelände «La Pista» ein neues Zuhause aufzubauen – unter schwierigsten Bedingungen. Audinas erste Hütte bestand aus vier Stöcken und einer Decke. Tagsüber diente diese als Sonnenschutz, in der Nacht als dürftiger Schutz vor der Kälte. Nach und nach besserte sie ihre Hütte auf – mit Plastikplanen und Wellblech.
Wellblech ist auf «La Pista» sehr gefragt. Es macht die Hütten etwas stabiler und schützt das wenige Hab und Gut vor Nässe. Das ist dringend nötig, kommt es im tropischen Klima von Maicao doch immer wieder zu sturzartigen Regenfällen. Dann steht innert zehn Minuten alles knöcheltief unter Wasser, auch die Hütten, die nicht stabil genug gebaut sind. Durch die prekären Verhältnisse und die schlechte Hygienesituation können sich Krankheiten in Windeseile ausbreiten.
«La Pista» ist in 12 Sektoren unterteilt, jedem Sektor steht eine Person vor. Sie kümmert sich um die Belange der Menschen, schlichtet Streitereien, begleitet Kranke ins Spital und ist das Bindeglied zu Behörden und Hilfsorganisationen vor Ort. Audina ist seit ihrem Ankommen die Vorsteherin ihres Sektors. Sie kümmert sich liebevoll um jegliche Anliegen, sind sie noch so trivial. Sie organisiert zudem Unterstützung von Hilfswerken, wenn eine Familie in besonders grossen Schwierigkeiten steckt. So kam sie auch in Kontakt mit dem Caritas-Projekt, das von unserer Partnerorganisation Pastoral Social Caritas Kolumbien umgesetzt wird.
Stabilität und Entwicklung durch das Caritas-Projekt
«Seit dem Eintreffen der ersten Geflüchteten unterstützt die Caritas die Ärmsten mit dem Nötigsten. Meist sind es alleinerziehende Mütter, die mit ihren Kindern kommen», erzählt Sandra Gonzalez, Koordinatorin für das Projekt auf «La Pista» und ähnliche Siedlungen im Norden von Kolumbien. «Unser Projekt ist in zwei Phasen gegliedert. Die Situation von neu eintreffenden Familien muss sich zuerst stabilisieren. Da helfen wir mit Lebensmittelpaketen, Bargeldzahlungen für das Allernötigste, rechtlicher Beratung und psychologischer Betreuung.»
«Meine Geschäfte laufen gut. Ich muss nicht mehr von der Hand in den Mund lebe.»
Es hat sich gezeigt, dass vor allem Letzteres enorm wichtig ist, damit ein Neuanfang gelingen kann. Die Geflüchteten müssen ihr gewohntes Leben zurücklassen und ganz neu anfangen, meist ohne jegliche Reserven und oft nur mit dem, was sie auf dem Leibe tragen. Das ist eine grosse psychische Belastung. «In einer zweiten Phase geben wir den Ärmsten das Rüstzeug, damit sie ein eigenständiges Einkommen erwirtschaften können. Das machen wir mit Kursen, die zum Führen eines eigenen Unternehmens befähigen», ergänzt Sandra Gonzalez.
Frauen werden mit Erfolg zu Kleinunternehmerinnen
«Wir lernen eine einfache Buchhaltung zu führen, den Umgang mit den Finanzen eines Mikrounternehmens, welche Papiere benötigt werden oder warum Sparen sinnvoller ist als Geld zu leihen», benennt Audina einige Inhalte des Unternehmerinnenkurses. Nach dem Abschluss des dreimonatigen Kurses eröffnete Audina mit dem Startkapital aus dem Projekt ihr eigenes Kosmetikstudio, das sie neben ihre Hütte gebaut hat. Täglich empfängt sie dort ihre Kundinnen. Zukünftig will sie ihre Dienstleistungen noch ausweiten und einen Kurs zum Haareschneiden besuchen. Sie träumt davon, dass sie einst das Geschäft gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter führen kann.
Dank Audina hat auch Virginia Cardinia Ramirez (23) den Unternehmerinnenkurs der Caritas absolviert. Die junge Mutter von zwei Kindern flüchtete mit ihrer ganzen Familie nach Kolumbien. Ihr Start war sehr schwierig. Als Kaffeeverkäuferin auf den Strassen von Maicao verdiente sie kaum genug für die Mahlzeiten ihrer Familie. Seit zwei Jahren produziert Virginia nun täglich Empanadas und Arepas. Das traditionelle kolumbianische Fastfood verkauft sie dann am frühen Abend aus einer eigens dafür angeschafften Verkaufsvitrine. «Meine Geschäfte laufen gut. Ich muss nicht mehr von der Hand in den Mund leben», berichtet Virginia strahlend.
Noch immer kommen neue Geflüchtete aus Venezuela auf «La Pista» an. Viele haben die diesjährigen Wahlen abgewartet, die Opposition unterstützt und auf einen Neuanfang in der Heimat gehofft. Aber die Wende in Venezuela blieb aus. Nun müssen manche sogar um ihr Leben fürchten und der einzige Ausweg ist die Flucht. Die Caritas wird die Ärmsten weiterhin dabei unterstützen, Schritt für Schritt ein neues Leben aufzubauen.
700 Millionen Menschen auf der Welt leben in extremer Armut. 700 Millionen Menschen müssen mit weniger als 2,15 Dollar am Tag auskommen. 700 Millionen Menschen fehlen Mittel für ausreichend Nahrung, medizinische Versorgung und ein sicheres Zuhause. 700 Millionen Menschen – das entspricht in etwa der Bevölkerung Europas zwischen dem norwegischen Tromsø und dem griechischen Heraklion.
Diese skandalöse Realität ist nicht hinnehmbar. Caritas Schweiz hat sich darum zum Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern, die in Armut leben. Wir tun dies dank der Unterstützung von treuen Spenderinnen und Spendern, kirchlichen Institutionen, Firmen und Stiftungen. Gemeinsam engagieren wir uns für Menschen auf der Flucht vor Krieg und politischen Unruhen. Für Menschen, die kein ausreichendes Einkommen finden, die von der Klimakrise und Naturkatastrophen bedroht sind. Gemeinsam lässt sich viel mehr bewirken: Darum macht Caritas Schweiz in diesen Wochen vermehrt darauf aufmerksam, wie wichtig das solidarische «Ja für eine Welt ohne Armut» ist.
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Titelbild: Auf dem stillgelegten Flughafen in Maicao leben rund 2’000 Familien unter oft katastrophalen Umständen. © Reto Albertalli