Nothilfe in der Ukraine: Alle packen mit an
Die humanitäre Lage in der Ukraine ist weiterhin äusserst prekär, die Situation verändert mit jedem Kriegstag. Die Caritas unterstützt die Bevölkerung in der Ukraine und den Nachbarländern mit dem Nötigsten. Unser Landesdirektor Lukáš Voborský, derzeit in Warschau stationiert, beantwortet sechs Fragen.
Sie waren Mitte April in Lviv. Was sind Ihre Eindrücke?
Bereits auf der Zugreise nach Lviv habe ich sehr eindrückliche Szenen erlebt. Unterwegs kreuzten wir die Menschen, die mit dem Zug aus der Ukraine fliehen. In Przemysl wartete eine Gruppe von Kindern mit Behinderung am Bahnhof auf ihre Weiterreise. Es dauerte Stunden, bis alle im richtigen Zug waren, allein weil die Zahl der Flüchtenden so hoch und der Bahnhof überlastet ist. Das war wie ein Realitätscheck: Mir wurde innert Sekunden nochmals vor Augen geführt, was der Krieg für die Betroffenen bedeutet und in welchem Ausmass.
Was man bei Ankunft in Lviv sofort spürt, ist die ambivalente Stimmung. Die Menschen sind erschreckt vom Krieg und dessen Ausmass, aber auch voller Tatendrang. Alle wollen ihren Beitrag leisten, alle packen mit an. Sie versuchen, nicht zu erstarren und sich in all dem Chaos ein Minimum an Alltag zu bewahren. Sie geben ihr Bestes, um trotz all dem Elend irgendwie weiterzumachen. Das gibt mir Hoffnung!
Über Ostern erlebte Lviv direkte Luftangriffe auf die Stadt. Was hat das verändert?
Sie sind eine weitere Eskalation. Erstmals wurden in Lviv, und damit im Westen der Ukraine, Bahnstrecken und andere strategisch wichtige Infrastruktur angriffen. Unsere Arbeit geht jedoch unverändert weiter.
Wie schafft es Caritas Ukraine trotz des Krieges weiterhin auch in den umkämpften Gebieten tätig zu sein?
Caritas führt ihre Arbeit in der Ukraine fort. Einige Caritas Zentren sind auch in den umkämpften Gebieten im Osten und Süden des Landes aktiv. Mitte März wurde ein Caritas Zentrum in Mariupol beschossen. Dabei sind zwei meiner Kolleginnen der Caritas Ukraine und fünf ihrer Familienangehörigen ums Leben gekommen. Das hat uns alle zutiefst erschüttert. Einige Mitarbeitende wurden seitdem in die nahe gelegene Stadt Zaporizhzhia evakuiert, wo sie mit grossem Engagement weiterarbeiten und Flüchtende aus Mariupol empfangen. Ich weiss aber auch von Kollegen, die ihre Familien ins Ausland evakuieren, und selbst bewusst zurückbleiben und ihre Arbeit für die Caritas vor Ort weiterführen.
Caritas hatte in der Vergangenheit bereits eine sehr starke Präsenz im Osten der Ukraine. Durch ihre jahrzehntelange Arbeit verfügen sie über fundiertes Wissen über die Region und Kontakte zu denjenigen, die bereits vor dem Krieg in Armut lebten. Die lokale Caritas arbeitet beispielsweise mit Vertrauenspersonen und mobilen Teams zusammen, wodurch sie verlässlich die Bedürfnisse der Bevölkerung aufnehmen und verifizieren können. Das ermöglicht, in der jetzigen Kriegssituation die Unterstützung der Bedürftigsten sicherzustellen.
Wie wird der Nachschub an Nothilfegütern sichergestellt?
Die Versorgung der notleidenden Menschen stellen wir, wann immer möglich, über die lokalen Märkte in der Ukraine sicher. Der Transport von humanitären Gütern ist grundsätzlich weiterhin über Strassen- und Schienenverkehr möglich. Dort, wo die lokalen Märkte den Bedarf nicht oder nicht schnell genug decken können, liefert die Caritas Nothilfe aus Polen über die Grenze hinweg. Von Warenhäusern in Polen werden die Güter im Westen der Ukraine verarbeitet und umgepackt und von dort aus in die Regionen gebracht, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Der Bedarf wird über das Caritas-Netzwerk feinmaschig koordiniert. Die Arbeit, die dahintersteckt, ist immens. Ich habe ein Warenhaus der Caritas in Lviv besucht. Dort ist ein Lastwagen nach dem anderen losgefahren, um die humanitären Hilfspakete ins ganze Land auszuliefern. Mitarbeitende und Freiwillige arbeiten unermüdlich, um die Hilfsgüter umzupacken, Lastwägen zu laden, ankommende Ladungen zu entladen.
Sie sind nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Nachbarländer zuständig. Was sind die kurz- und längerfristigen Perspektiven?
Aktuell leistet die Caritas Schweiz in Polen, Rumänien und Moldawien Nothilfe für die geflüchteten Menschen. In der Regel werden die Flüchtlinge aus der Ukraine dort registriert und erhalten Zugang zum Sozialsystem. Dies in angemessener Frist für die grosse Anzahl Flüchtende aufzugleisen, ist jedoch eine grosse Herausforderung für die Länder. Hier kommt die Caritas ins Spiel: Wir unterstützen die Ankommenden während der ersten, akuten Zeit und bieten langfristig dort Hilfe an, wo die staatlichen Angebote nicht greifen.
Das bedeutet zum Beispiel, dass die Caritas in Polen neben kurzfristigen Übernachtungsmöglichkeiten und warmen Mahlzeiten auch in der Vermittlung von Gastfamilien unterstützt und längerfristige Unterkünfte bereitstellt. Dort kommen beispielsweise Kinder aus evakuierten Waisenheimen in der Ukraine unter.
Bei Caritas Schweiz waren Sie für die humanitäre Hilfe im Syrien-Konflikt zuständig. Können Sie Erfahrungen aus dieser Zeit in der Ukraine-Nothilfe einbringen?
Auf jeden Fall. In der Ukraine haben Menschen durch den Krieg innerhalb kürzester Zeit ihr Zuhause verloren. Sie mussten überstürzt ihre Häuser verlassen, Familien wurden gewaltvoll auseinandergerissen. Die Menschen stehen unter Schock. Diese akute Notsituation habe ich auch in Syrien angetroffen. Unter solchen Umständen fokussieren wir uns in den ersten Monaten darauf, die grundlegendsten Bedürfnisse der Betroffenen zu decken. Im Syrien-Konflikt hat sich dafür neben Anderem die Bargeldhilfe bewährt, die den Menschen erlaubt, in Würde für sich selbst aufzukommen und gleichzeitig die lokale Wirtschaft unterstützt. Diese Ansätze ergänzen wir mit Aktivitäten, die auf erste psychosoziale Hilfe fokussieren. Dabei arbeiten wir zum Beispiel mit Workshops, in denen positive Strategien zur Traumabewältigung und im Umgang mit Ängsten vermittelt werden. Diesen breiten Ansatz verfolgen wir auch in der Ukraine.
Geschrieben von Lucia Messer
Titelbild: Lukáš Voborský, directeur national pour l'Ukraine chez Caritas Suisse. © Alexandra Wey