Olena lässt sich nicht unterkriegen – nicht einmal vom Krieg
«Mein damals 14-jähriger Sohn hat mein Gesicht in seine Hände genommen, mich durchdringlich angeschaut und gesagt: Mama, wir müssen hier weg.» Spätestens in diesem Moment war Olena Kirichenko klar, dass sie ihr Dorf Markove im Donbas verlassen. Sie, ihr Sohn, die Geschwister, Schwägerinnen und Schwager mitsamt den betagten Eltern. Raus aus ihrem Dorf, das in der Nähe von Bachmut liegt. Raus aus der Kampfzone, weg vom ständigen Beschuss.
2014 hatte Olenas Familie schon einmal fliehen müssen, damals, als Russland den Süden der Ukraine annektierte. Und jetzt, zehn Jahre später, greift die russische Armee erneut die Ukraine an. Wieder müssen die Kirichenkos alles zurücklassen: Ihr liebevoll gestaltetes Haus, die geliebten Kirschbäume und ihre Tiere, jene Stadt, «in der wir geboren wurden, zur Schule gingen und der der wir unsere jungen Jahre in Liebe und Freundschaft verbrachten», erzählt Olena traurig.
Google als «Fluchthelfer»
Im Familienrat beschliessen sie, aus dem umkämpften Donbas in die Region von Poltawa zu ziehen. Diese Gegend im Landesinneren der Ukraine ist bisher weitgehend vom Krieg verschont, weitläufig, ländlich und fruchtbar. Der Grossfamilie Kirichenko ist es wichtig, auf dem Land zu leben und weiterhin als Bauern zu arbeiten. Schon im Donbas hatten sie Obst und Gemüse verarbeitet und Kühe und andere Nutztiere gehalten.
Olena befrage Google: «Wo ist der beste Ort in der Region Poltawa» - und die Suchmaschine schlägt Serhiyivska vor, 600 Kilometer nordwestlich von ihrem jetzigen Heimatort. Die gewiefte 44-Jährige sucht weiter im Netz. Gibt es ein Haus, das sie mieten konnten? Und sie wird fündig. Kurzerhand kontaktiert sie den Vermieter, der ihr Fotos und verwackelte Videos vom sehr einfachen und heruntergekommenen Haus zeigt. 2 bewohnbare Zimmer für 17 Personen. Dennoch, sie einigen sich und Olena und ihre Familie bereiten die Evakuation vor.
Sie mieten einen Lastwagen, laden alles auf, was ihnen besonders wichtig ist und machen sich auf den gefährlichen und beschwerlichen Weg aus dem umkämpften Donbas in Richtung Serhiyivska. Ihre 26 Kühe geben sie einem Bauern in Obhut, wollen sie nachholen, sobald sie in ihrem neuen Zuhause einen Stall für das Vieh gebaut haben. Dass davon nur sechs überleben und in erbärmlichem Zustand sein werden, ahnen sie nicht.
Herzlich Willkommen in der Fremde
«Als wir nachts nach langen Tagen der Reise in dem Ort ankamen, warteten der Bürgermeister und alle aus dem Dorf auf uns. Sie waren gekommen, um uns zu begrüssen und uns zu helfen», erinnert sich Olena bewegt. Überwältigt und völlig übermüdet legten sie sich in ihrem neuen Zuhause auf den Boden zum Schlafen, während die Dorfbewohner ihre Sachen abluden.
«Morgens wachten wir in einer ungewohnten Stille auf, die wir seit drei Monaten nicht mehr erlebt hatten. Wegen der ständigen Explosionen waren wir solche Stille nicht mehr gewohnt.»Olena Kirichenko
Olena wäre nicht Olena, wenn sie nicht auch am neuen Ort rasch die Ärmel hochgekrempelt und trotz aller Dramatik losgelegt hätte. Innert kurzer Zeit finden die fünf Familien der Kirchichenkos eigene Unterkünfte, nehmen Teilzeitjobs an und integrieren sich rasch ins Dorf. Ihnen war klar, dass es kein Zurück in den Donbas geben würde. «Es ist meine zweite Flucht», erklärt die alleinerziehende Mutter entschieden. «2014 habe ich schon einmal ein neues Zuhause für meinen Sohn aufgebaut. Das wurde durch die jüngsten Angriffe zerstört. Es reicht. Es ist eine Utopie, dass wir zurück können.»
Olena will und muss nach vorne schauen. Sie überzeugt den Vermieter, ihr ein baufälliges Gebäude mietfrei zur Verfügung zu stellen, um etwas mehr Platz für die grosse Familie zu haben. Sie organisiert federführend den landwirtschaftlichen Neuanfang, bei dem alle Kirchichenkos aktiv mithelfen. Hinter dem Haus bauen sie einen Stall für ihre «Mädels», wie sie ihre Milchkühe liebevoll nennen. Die völlig abgemagerten Tiere waren inzwischen vom Donbas nach Serhiyivska transportiert und dort fürsorglich aufgepäppelt worden.
Aus dem Elternschlafzimmer wird die Käserei
Mit der Milch der Kühe wollen sie in die Käseproduktion einsteigen, «einen Mehrwert schaffen, etwas, das es so in der Region noch nicht gibt.» Wieder konsultiert Olena das Internet, findet ein Kursangebot in Poltawa, lernt, probiert aus und beginnt nach kurzer Zeit, ihre Waren im Dorf und auf Märkten im Umland zu verkaufen. Um wirklich loslegen zu können, braucht sie aber einen Raum, in dem sich Käse professionell herstellen lässt. Das Zimmer, in dem ihre Eltern, eine Schwester und deren Kinder leben, scheint perfekt.
Die Grossfamilie legt zusammen und erwirbt ein Häuschen für die Eltern. Mit verschiedenen Zuschüssen von lokalen und nationalen Organisationen kaufen sie gebrauchte Maschinen und können in dem umgestalteten Zimmer ihre Produktion stetig verbessern. Es gibt unterschiedlich geformte Frischkäse, gereiften Hartkäse, getrocknete Käsebällchen aus Quark, mal mit Kräutern mal mit anderen Zutaten. Olena versucht immer neue Varianten und bildet sich regelmässig weiter.
Mit ihrer Käseproduktion «Markivchanka» ist Olena auch in den Sozialen Medien aktiv. Auf Instagram, Facebook und Tiktok bewirbt sie ihre Produkte und betreibt aktiv Netzwerkarbeit. Das Logo, das Schürzen und Flyer ziert, «hat ein Fan entworfen», verrät sie schmunzelnd.
Was Caritas Schweiz und ein blauer Traktor miteinander zu tun haben
Der Krieg dauert nun schon über zwei Jahre. Die Menschen müssen sich in einer neuen Umgebung ein möglichst eigenständiges Leben aufbauen können, trotz der Gewalt, mit der ihr Land überzogen wird. Daher führt Caritas Schweiz nicht nur Nothilfe-Projekte in der Ukraine, sondern unterstützt immer mehr zukunftsgerichtete Geschäftsideen von Binnenflüchtlingen wie den Kirichenkos. Als Olena von diesem Caritas-Projekt hört, wendet sie sich sofort an das Büro in Poltawa und stellt ihren Ansatz vor.
Ihr Problem: Derzeit bietet «Markivchanka» seine Produkte zum Selbstkostenpreis an, denn ein Grossteil der lokalen Bevölkerung hat wenig finanziellen Spielraum. «Wenn es uns gelingt, die Kosten der Produktion zu senken, können wir den Käse weiterhin günstig verkaufen und dennoch etwas verdienen.» Der grösste Posten ist das Futter für die Kühe. «Also müssen wir hier ansetzen», erläutert Olena. Ihre Lösung: Mit einem kleinen Traktor könnten sie auf dem Land hinter dem Hof selbst Futter anbauen und so diese Kosten einsparen. Das pragmatische Modell überzeugt die Caritas-Mitarbeitenden und Olena wird in das Programm aufgenommen. Sie nimmt an Weiterbildungen teil und gemeinsam erstellen sie einen Businessplan.
Wenige Monate später, am 29. Februar 2024, kommt der langersehnte blaue Traktor in Serhiyivska an. Olena und die ganze Grossfamilie sind glücklich und dankbar. Der neue Helfer auf dem Hof der Kirichenkos ist schon nach kurzer Zeit nicht mehr wegzudenken. Ein weiterer Schritt in ein neues Leben, fernab der Heimat, die ihnen schon zweimal genommen wurde.
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Titelbild: © Valentyn Kliushnyk