Verworrene Asylpraxis in der Schweiz

Asylgesuche aufgrund der sexuellen Orientierung

«Werden Sie in Ihrem Land aufgrund Ihrer sexuellen Orientierung verfolgt? Dann leben Sie nach Ihrer Rückführung ‹diskret› und ‹vernünftig›.» Bei Asylgesuchen aufgrund der sexuellen Orientierung haben das Staatssekretariat für Migration und das Bundesverwaltungsgericht mehrere Entscheide gefällt, die gegen das Völkerrecht verstossen. So etwa im Fall von Maxime.

In 62 Ländern auf der Welt ist Homosexualität strafbar, in 12 Staaten droht sogar die Todesstrafe. Aber selbst in Ländern ohne repressive Gesetze können LGBTQ+-Personen gesellschaftlicher Verfolgung ausgesetzt sein.

Das musste auch Maxime (Name geändert) erleben. Weil er in seiner Heimat aufgrund seiner Homosexualität verfolgt wurde, floh er in die Schweiz. Doch sein Asylgesuch wurde abgelehnt; das Staatssekretariat für Migration (SEM) erachtete seine Darstellung der Verfolgung als unglaubwürdig.

Der Fall von Maxime zeigt Widersprüche in der Schweizer Asylpraxis auf. Und er veranschaulicht die Herausforderungen, welche Asylsuchende zu bewältigen haben, wenn sie ihre sexuelle Orientierung beweisen müssen. Doch von vorne.

«Diskretion» und «Vernunft» verlangt

Gemäss der UNO-Flüchtlingskonvention, welche die Schweiz unterzeichnet hat, können Personen aus unterschiedlichen Gründen ihren Status als Flüchtling geltend machen. Darunter gilt die Angst vor Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die auf der sexuellen Orientierung beruhen kann. 

Dass Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden, zu einer solchen bestimmten sozialen Gruppe gehören, wird allgemein anerkannt. Zwar definiert das Schweizer Asylgesetz das Konzept der «sozialen Gruppe» nicht genau. Allerdings erachtet das SEM die sexuelle Orientierung als grundlegendes Element der Identität.

Nichtsdestotrotz fordert die Schweiz von abgewiesenen Asylsuchenden oft «Diskretionspflicht» und empfiehlt ihnen, ein «diskretes» und «vernünftiges» Leben zu führen, damit sie nach der Rückführung in ihr Land nicht verfolgt werden.

Internationale Gremien äussern Kritik

Dieses Vorgehen ist nicht vereinbar mit der europäischen Rechtsprechung. Gemäss dieser kann bei der Prüfung einer Verfolgung im Herkunftsland nicht erwartet werden, dass die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität geheim gehalten oder verborgen wird. Sowohl der Gerichtshof der Europäischen Union als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigten, dass die sexuelle Orientierung ein grundlegender Aspekt der Identität ist, der nicht versteckt werden sollte. 

Im Fall von Maxime verlangten die Schweizer Behörden, er müsse mit Dokumenten belegen, dass er verfolgt wurde – ein für ihn unmögliches Unterfangen. Schliesslich melden sich homosexuelle Personen selten bei den Behörden, dass sie verfolgt werden, um offizielle Dokumente zum Beweis ihrer Homosexualität zu erhalten, da ja ebendiese Behörden ihre Homosexualität bestrafen.

Die Schweiz wurde von internationalen Gremien wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem UNO-Komitee gegen Folter kritisiert, weil sie den Grundsatz der Nichtzurückweisung nicht einhält. Dieser verbietet es, eine Person in ein Land zurückzuschicken, in dem ihr Verfolgung droht.

Klar ist: Die Schweiz muss ihre Praxis bei der Behandlung von Asylgesuchen überdenken. Und sie muss in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht handeln. Sie darf sich nicht mehr auf die Diskretionspflicht berufen und muss den immensen psychologischen Druck, den eine Verheimlichung hervorruft, berücksichtigen.

Geschrieben von Arline Set, Verantwortliche für die juristische Koordination im Zusammenhang mit dem Dublin-Verfahren*

*Im Auftrag des Bundes übernimmt Caritas Schweiz die Rechtsvertretung und -beratung in der Westschweiz. Im Tessin und in der Zentralschweiz wird dieser Auftrag in Zusammenarbeit mit SOS Ticino ausgeführt.

Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch

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Titelbild: © Alexandra Wey