Vorwärts schauen, neue Perspektiven schaffen
Seit einem Jahr herrscht in der Ukraine Krieg. Die Geschichte von Tatyana zeigt auf, welches Leid die Angriffe der russischen Armee verursachen. Sie beweist aber auch, was die weltweite Solidarität und die Hilfe der Caritas konkret bewirken. Eine Begegnung auf die Ferne mit einer Familie, die sich nicht unterkriegen lässt.
Wenn Tatyana auf die letzten zwölf Monate zurückschaut, kommen ihr die Tränen. Nichts ist mehr so wie es war – und es wird wohl auch nie wieder so sein. Der russische Angriff auf die Ukraine hat alles zerstört: ihre Stadt, ihre Wohnung, ihre Arbeit, die Erinnerungsstücke der Familie. Nichts ist geblieben. «Der Krieg hat mein Leben völlig auf den Kopf gestellt, im wahrsten Sinn des Wortes ist kein Stein mehr auf dem anderen», resümiert die 48-Jährige. Es fällt ihr schwer in Worte zu fassen, was sie und ihre Eltern seit Kriegsbeginn durchmachen mussten.
Zu dritt lebten sie im Zentrum von Mariupol – die Wohnung bot einen Blick auf die ganze Stadt. Um ihren Arbeitsplatz als Wissenschaftlerin im Naturreservat «Meotyda» beneideten sie viele, ein Traumjob für die Ethnologin. In dem imposanten Landschaftsschutzgebiet am Asowschen Meer wachsen einzigartige Pflanzen. Vom Aussterben bedrohte Tiere finden hier eine Heimat. «Ich hatte eine erfüllende Arbeit als Professorin, eine wunderbare Wohnung und ich konnte reisen. Bis zum 24. Februar 2022.» Mariupol im Südosten des Landes gehörte zu den ersten Zielen der russischen Angriffe.
Die wichtige Industriestadt wurde innert weniger Tage umzingelt und mit Bomben überzogen. Es gab keine Elektrizität, keine Heizung, kaum Lebensmittel. Tatyana erinnert sich:
«Wir sammelten Holz, um etwas Warmes zuzubereiten. Weil wir kein sauberes Wasser hatten, kochten wir Schnee. Nachts herrschten Temperaturen von 15 Grad Minus.»Tatyana
Bis Mitte März 2022 hielt die Familie in Mariupol durch. Dann sahen sie die einzige Möglichkeit, um zu überleben, in der Flucht.
Ein neues Leben, das niemand so gewollt hat
Tatyana, ihre Eltern sowie ihre Schwester und deren Mann, die in einem benachbarten Dorf lebten, verliessen Mariupol. An sich wollten sie nach Saporischschja, rund zweieinhalb Autostunden von Mariupol entfernt; zweieinhalb Stunden in Friedenszeiten. Aber wegen der Angriffe, Checkpoints und Strassensperren dauerte die Fahrt über zehn Stunden. Dort angekommen, fühlte sich Tatyanas Familie immer noch zu nah am Kriegsgeschehen. Sie brachen erneut auf, bis sie schliesslich in Ismail unweit von Odessa landeten. Die Stadt mit rund 85'000 Einwohnern soll ihre neue Heimat werden. Zu fünft teilen sie sich jetzt eine schlichte Wohnung, anders ist das bei den hohen Mietkosten nicht möglich. Zwar erhalten die Eltern eine minimale Rente und Tatyana kann ein kleines Forschungspensum online an der Universität absolvieren, aber es reicht kaum für das Allernötigste.
Wie Tatyanas Familie geht es Millionen von Menschen in der Ukraine. Sie haben alles zurückgelassen und sind gezwungen, ein neues Leben zu beginnen. Niemand von ihnen wollte das so. Die Älteren fühlen sich ihrer Vergangenheit beraubt, die Jüngeren der Gegenwart und was die Zukunft bringt, kann niemand sagen. Doch Tatyana will sich nicht unterkriegen lassen. Von Nachbarn hörte sie von Caritas und ihren Angeboten.
Rasche Hilfe durch die Caritas
Die Projekte der Caritas starteten schon kurz nach den ersten Angriffen. Bereits im Vorfeld hatte das internationale Caritas-Netz Szenarien und humanitäre Einsatzmöglichkeiten für die Ukraine und die umliegenden Länder entwickelt. Im Zentrum stand Nothilfe in den umkämpften Regionen und dort, wo besonders viele Menschen aus ihren Heimatstädten flüchteten, um sich in Sicherheit zu bringen. Mitarbeitende und Freiwillige verteilten warme Mahlzeiten, stellten temporäre Unterkünfte bereit und boten psychologische und rechtliche Beratung an. Wo immer möglich, machten sie darüber hinaus Hausbesuche bei Alten und Kranken, damit auch sie mit sauberem Wasser und Lebensmitteln versorgt waren. Dabei kann die Caritas auf ein Team zählen, das sich in der Region bestens auskennt. Sie sprechen die Sprache, wissen, wie sie die Hilfsgüter verteilen können, selbst wenn ganze Quartiere wegen der Kriegshandlungen gesperrt sind. Sie verstehen die Sorgen der Menschen, weil auch ihre Angehörigen und Freunde den Kriegswirren ausgesetzt sind.
Tatyana und ihre Familie registrierten sich in einem der über 70 Zentren der Caritas. «Wenn man sein Leben immer frei gestalten konnte, ist es schwierig, plötzlich auf Unterstützung angewiesen zu sein», erklärt die Ethnologin. «Und doch haben wir keine andere Möglichkeit. Wir mussten fast unser ganzes Hab und Gut in Mariupol zurücklassen.» Neben Lebensmittelpaketen und Hygieneartikeln erhielt die Familie einmalig einen Bargeldbetrag. Damit zahlten sie die erste Miete für die neue, kleine Wohnung und kauften Möbel und Küchengeräte nach ihrem Geschmack. Jetzt fühlt sich die Fremde ein klein wenig heimeliger an.
Noch nie dagewesene Solidarität
Besonders wichtig – gerade für Tatyanas Eltern – ist die psychologische Betreuung durch die Caritas-Mitarbeitenden. Die Gespräche helfen, neu anzufangen und die brutale Entwurzelung zu verarbeiten. Oft sitzen die beiden, die seit 55 Jahren ein Paar sind, stundenlang in der Wohnung und blicken gedankenverloren vor sich hin. Alle Erinnerungstücke sind verbrannt, die Fotos, die Briefe, die Geschenke. Pläne, ins Ausland zu gehen, verwirft die Familie. Die betagten Eltern haben Angst, dort ganz isoliert zu sein, weil sie die Sprache nicht sprechen, die Lebensgewohnheiten nicht kennen und keine Angehörigen haben. «Wir müssen von vorn beginnen. An eine Rückkehr nach Mariupol ist nicht zu denken», so Tatyanas ernüchterte Einschätzung.
Die Geschichte von Tatyana veranschaulicht, was dieser Krieg für Millionen von Menschen in der Ukraine bedeutet. Das Schicksal der Familie gibt den Gräueltaten ein Gesicht und einen Namen. Es verdeutlicht aber auch – und das ist ebenso wichtig –, was Spenden konkret bewirken. Petra Winiger, die bei Caritas Schweiz seit Jahren die Katastrophen-Einsätze leitet, hat trotz ihrer grossen Erfahrung noch nie so grosse Solidarität, Unterstützung und Sorge wie für die Menschen in der Ukraine erlebt. Innert kürzester Zeit spendeten Privatpersonen, Stiftungen, Kantone und Gemeinden, Firmen sowie kirchliche Institutionen rund zwanzig Millionen Franken. Geld, das die Caritas im Kriegsgebiet und den umliegenden Ländern wie Polen, Rumänien oder der Slowakei einsetzt. Die Glückskette und Deza sind wichtige Partner für die Nothilfeprojekte vor Ort.
«Ich bin froh, dass wir den Menschen in dieser schrecklichen Zeit dank dieser riesigen Solidarität helfen können.»petra winiger
Selbstbestimmt in der Not
Bisher konnten weit mehr als fünf Millionen Personen eine Hilfsleistung des internationalen Caritas-Netzwerks in Anspruch nehmen: sei es ein Bett in einer Notschlafstelle, ein Zugticket für die Weiterreise zu Verwandten, eine warme Mahlzeit, Hygieneartikel, Brennholz für den Ofen, einen Stromgenerator, Balken für das zerstörte Dach oder Bargeld. «Die Bargeldhilfe ist in solchen Situationen besonders wichtig», erklärt Petra Winiger. Die Meschen können selbstbestimmt kaufen, was für sie im Moment am wichtigsten ist. Das bietet sich jedoch nur dort an, wo die lokalen Märkte noch funktionieren und man mit Geld Güter erwerben kann. Bevor die Familien Geld erhalten, findet eine Beratung in einem der Caritas-Zentren statt. Die meisten erzählen in dem Gespräch, wofür sie den Betrag verwenden wollen. «Zudem erkennen wir da auch, ob die Personen medizinische oder psychologische Hilfe brauchen.»
Die Hilfsangebote der Caritas passen sich der aktuellen Lage immer wieder an, die Bedürfnisse verändern sich konstant, je nach Kriegsverlauf. Mit jedem Tag der Kämpfe wird mehr zivile Infrastruktur zerstört. Daher verpflichtet sich die Caritas, so bald als möglich und so lange wie nötig im Wiederaufbau tätig zu sein, Einkommensmöglichkeiten zu schaffen und Perspektiven für intern Vertriebene zu entwickeln. Eine von diesen internen Vertriebenen ist Tatyana. Sie schaut nach vorne. «Meine Familie ist am Leben, das ist das Wichtigste. Materielles können wir irgendwie beschaffen, auch weil es Hilfsangebote wie die von der Caritas gibt. Ich kann nur sagen: Danke von ganzem Herzen.»
Weitere Informationen
Titelbild: Tatyana erhält Hilfe von der Caritas. Es fällt ihr schwer, auf Unterstützung angewiesen zu sein. © Caritas Ukraine