Wenn das Geld zum Leben fehlt
Wenn die derzeitige Armutsgrenze um nur 500 Franken pro Monat angehoben würde, verdoppelte sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf einen Schlag. Dies zeigt eine Umfrage im Kanton Bern. Vor allem Paare mit Kindern befinden sich häufig in einer schwierigen finanziellen Situation. Eine minimale Veränderung ihres Einkommens oder ihrer Ausgaben führt dazu, dass sie unter die Armutsgrenze fallen. Caritas ist der Meinung, dass diese neuen Erkenntnisse eine entsprechende politische Antwort erfordern: Die Armutsprävention muss ausgeweitet werden. Und in diesem Zusammenhang sollte der Situation von Familien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) waren im Jahr 2020 722'000 Menschen in der Schweiz von Armut betroffen. Das entspricht 8,5 Prozent der Bevölkerung. Aber wie wird Armut gemessen? Wann gilt eine Person als arm? Die Armutsgrenze, die das BFS berechnet, orientiert sich am Existenzminimum der Sozialhilfe gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Dabei handelt es sich um eine politische Festlegung, was Menschen in Notlagen im Minimum an finanziellen Mitteln zugestanden werden soll, damit sie an der Gesellschaft teilhaben können. Im Jahr 2020 betrug die Armutsgrenze durchschnittlich 2'279 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3'963 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern.
Die Realität zeigt deutlich, dass für eine vierköpfige Familie die Armutsgrenze sehr niedrig angesetzt ist und dass ein Einkommen knapp über dieser Schwelle nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken.
Wird die Armutsgrenze um 500 Franken erhöht, sind doppelt so viele Menschen arm
Statistisch gesehen ist eine Person nicht arm, wenn sie pro Monat 50 Franken mehr zur Verfügung hat als den Betrag, der als Armutsgrenze gilt. Und wenn das Einkommen etwas höher ist als das Existenzminimum in der Sozialhilfe, dann besteht auch kein Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Das heisst aber noch lange nicht, dass die oder der Betroffene genug Geld zum Leben hat. Wir wollten wissen, wie viele Menschen das betrifft. Forschende der Berner Fachhochschule haben für uns am Beispiel des Kantons Bern untersucht, wie viele Haushalte sich knapp über der Armutsgrenze in finanziell schwierigen Lebenslagen befinden und welche Haushaltsformen besonders stark davon betroffen sind. Haushalte mit Personen im Pensionsalter wurden von der Untersuchung ausgeschlossen, weil ihre finanzielle Lage nicht so einfach mit jener der Erwerbsbevölkerung vergleichbar ist. Alle Aussagen beziehen sich also auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und ihre Kinder.
Als finanziell schwierige Lage bezeichnen wir den Einkommensbereich zwischen der Armutsgrenze gemäss BFS und dem Niveau der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV. Denn die Höhe der Ergänzungsleistungen ist politisch anerkannt als minimaler Lebensstandard.
Die Resultate bestätigen unsere Vermutung, dass sich viele Haushalte in diesem kritischen Einkommensbereich befinden: Wird die Armutsgrenze gemäss BFS verwendet, sind im Kanton Bern 7,7 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Wird die Armutsgrenze um nur 500 Franken pro Monat erhöht, sind es bereits doppelt so viele. Und fast ein Fünftel der Berner Bevölkerung lebt in einem Haushalt mit einem Einkommen, das unter dem Niveau der Ergänzungsleistungen liegt.
Besonders viele Familien befinden sich in einer finanziell schwierigen Lage
Viele Haushalte befinden sich also in einem kritischen Einkommensbereich nur wenig oberhalb der Armutsgrenze. Das führt zur nächsten Frage: Welche Haushalte sind besonders betroffen?
Die Antwort ist erschreckend deutlich: Es sind vor allem Familien. Wird die Armutsgrenze gegenüber heute um 100 Franken angehoben, sind im Kanton Bern gut 7'000 Menschen zusätzlich von Armut betroffen. Fast die Hälfte davon leben in Paarhaushalten mit einem Kind oder mehreren Kindern. Und bis zur Höhe der Ergänzungsleistungen nimmt der Anteil der Familien noch einmal deutlich zu. Wenn wir die Zusammensetzung der Allgemeinbevölkerung mit der Bevölkerung vergleichen, die gemäss BFS von Armut betroffen ist und mit jener, die sich im kritischen Einkommensbereich zwischen der Armutsgrenze und der EL-Grenze befindet, dann fällt Folgendes auf: Paare mit Kindern machen knapp die Hälfte der Bevölkerung aus (Haushalte mit Personen im Rentenalter ausgenommen). In der Bevölkerung, die unter der geltenden Armutsgrenze lebt, ist ihr Anteil etwas kleiner. Gemäss Definition des BFS sind sie im Verhältnis also weniger oft arm als andere Haushaltstypen. Im kritischen Einkommensbereich zwischen der Armutsgrenze gemäss BFS und dem Niveau der Ergänzungsleistungen sind Paare mit Kindern hingegen klar übervertreten. Bis zur EL-Grenze nimmt ihr Anteil stark zu. Unter den Haushalten, deren Einkommen knapp unter der EL-Grenze liegt, sind praktisch nur Paare mit Kindern.
Alleinerziehende hingegen sind in der Bevölkerung, die gemäss BFS von Armut betroffen ist, deutlich übervertreten. Ihr Anteil ist in dieser Gruppe mehr als doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Auch im Bereich zwischen der Armutsgrenze und der EL-Grenze sind sie übervertreten. Ihr Anteil nimmt aber mit steigendem Einkommen ab.
Das Fazit ist eindeutig: Alleinerziehende haben ein hohes Armutsrisiko. Familien hingegen befinden sich häufig in einer finanziell schwierigen Lage knapp über der Armutsgrenze. Sie haben also «zu viel» Geld für die Sozialhilfe, ihr Budget ist aber trotzdem sehr eng. Ein Einkommensverlust, wie ihn viele Haushalte in der Corona-Krise verkraften mussten, und jede zusätzliche Ausgabe, die nicht vorhersehbar ist, bringen die Familie in Existenznöte.
Kinder kosten Geld und Eltern erhalten wenig Unterstützung
Dass vor allem Familien sich häufig in einer finanziell schwierigen Situation befinden oder im Fall der Alleinerziehenden häufig von Armut betroffen sind, ist kein Zufall. Kinder zu haben bedeutet in der Regel weniger Einnahmen und mehr Ausgaben. Die Ursachen für die finanziell schwierige Lage, in der sich viele Familien befinden, sind strukturell. Deshalb müssen auch die Lösungen auf Ebene der Strukturen, bei den Rahmenbedingungen ansetzen. Und da gibt es noch viel Luft nach oben. Familien erhalten hierzulande sehr wenig Unterstützung vom Staat. Im Vergleich mit anderen wohlhabenden Staaten und namentlich im europäischen Vergleich sind die Sozialausgaben für Familien in der Schweiz sehr tief. Und die Elternbeiträge für Kitas extrem hoch. Dabei wäre eine gut ausgebaute Familienpolitik ein wichtiger Pfeiler der Armutsprävention. Es braucht bezahlbare Kinderbetreuungseinrichtungen und mehr bezahlbare Wohnungen, die Belastung durch Krankenkassenprämien muss deutlich gesenkt und der finanzielle Spielraum von Haushalten mit niedrigem Einkommen durch Ergänzungsleistungen erhöht werden. Zudem müssen die Bildungschancen von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen dringend gefördert werden.
Geschrieben von Aline Masé
Titelbild: © Dominic Wenger