Wenn ein Lebenstraum zertrümmert wird
Es war ihr Traumhaus, liebevoll eingerichtet, der Garten sorgsam angelegt. Doch eine gewaltige Steinlawine pulverisierte im Juni 2024 ihre Idylle im bündnerischen Misox-Tal. Sandra und Marco sind gezwungen, ganz neu anzufangen.
Aufrecht und sicher steht Sandra Solari auf riesigen Felsbrocken und erklärt: «Genau hier stand unsere Garage.» Zu sehen ist allerdings nur eine enorme Schneise der Verwüstung; kleinere Steine und massiges Geröll, ein Holzbalken, der aus den Trümmern stakt, weiter unten Teile des Dachs. Wenn Sandra die Tränen kommen, übernimmt ihr Lebenspartner Marco Micherolli das Reden. Die Katastrophe hat die zwei noch enger zusammengeschweisst.
Als es passierte, war die 40-Jährige bei ihren Eltern zum Nachtessen. Den Hund hatte sie mitgenommen. «Die Katze», fährt Marco fort, «schlief auf einem Stuhl, als ich das Haus verliess …» Eine Viertelstunde später zertrümmerte eine enorme Steinlawine das gesamte Gebäude.
Alles verloren: von A wie Alphorn bis Z wie Zahnbürste
Das Geröll und der sonst idyllisch durchs Misox-Tal fliessende Fluss Moesa rissen entfesselt alles Hab und Gut mit sich: Geburtsurkunden, den Tiefkühler, Fotoalben, Bankauszüge, Souvenirs und Küchenutensilien genauso wie Kleidung, die Sportausrüstungen und Möbel. Alles. Geblieben sind das eigene Leben und das, was die beiden in dem Moment bei sich hatten. «Es ist ein riesiges Glück, dass wir nicht da waren, als die Steinlawine unser Zuhause zerdrückte», sagt die gelernte Gärtnerin, die für das Bundesamt für Strassenbau (ASTRA) arbeitet. Im Sommer kümmert sie sich um das Grün rund um Strassen und Autobahnen, im Winter sorgt sie für schneefreie Fahrbahnen; Marco übernimmt die gleichen Aufgaben beim Kanton Graubünden.
«Man verliert nicht nur das Haus und die Träume - sondern auch den Mut zu träumen.»
Doch der Neuanfang ist alles andere als einfach. Ständig muss sich das Paar mit den Versicherungen und der Bank austauschen, es gilt in Erfahrung zu bringen, wann und von wem sie Unterstützung bekommen. Von Caritas Schweiz erhielten sie einen Soforthilfebeitrag, weitere Hilfeleistungen sind in Abklärung. «Man kann sich gar nicht vorstellen, wie teuer es ist, neu anzufangen.» Für jedes Dokument wird eine Gebühr verlangt, als hätten sie die Papiere verschludert. Beim TV-Anbieter bekamen sie drei Mal zu hören, dass sie eine Strafe zahlen müssten, wenn sie den Receiver nicht zurückbringen. Dabei ist von dem Gerät nicht einmal das Kabel übrig.
Rosmarin steht für Neuanfang
Das eine ist der materielle Neuanfang – das andere der mentale. «Man verliert nicht nur das Haus und die Träume», sagt Sandra, «sondern auch den Mut zu träumen. » Und dennoch: In all der Unsicherheit, dem Trauma und der Trauer spürt man die aufkeimende Entschlossenheit der beiden, nach vorne zu schauen. Sie wollen im Misox-Tal bleiben. Nicht zuletzt, weil Marco (43) in der Nähe einen Stall mit Kühen hat. Ob das Paar wieder ein eigenes Haus mit Umschwung finden wird, wissen sie nicht. Aber vorsichtshalber zieht Sandra schon mal einen Rosmarin- Sprössling. In ihrem alten Garten hatte sie 39 davon.
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Titelbild: Sandra Solari und Marco Micherolli haben erst wenige Monate vor der Katastrophe den Kaufvertrag für ihr Zuhause unterschrieben – vom Haus ist nichts übrig, das Grundstück ist unter meterhohen Geröllmassen begraben. © Livia Leykauf