Wenn Kinder kein Gehör finden
Welche Angaben von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden sind glaubhaft? Immer wieder ziehen die Behörden falsche Schlüsse aus Befragungen, die Caritas Schweiz vor Gericht anfechten muss. Ein interdisziplinärer Ansatz könnte jedoch helfen.
«[…] Für jemanden, der weder lesen noch schreiben kann, können Sie das Mobiltelefon [aber] problemlos bedienen», bemerkte das Staatssekretariat für Migration (SEM). Damit stellte das SEM die Aussage zur angeblich fehlenden Schulbildung eines unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden infrage. Aufgrund dieser Beobachtung und anderer «Unglaubhaftigkeiten» legte das SEM für den Jugendlichen schliesslich ein fiktives Geburtsdatum und damit ein Alter von 18 Jahren fest.
Bei der Altersbestimmung einer asylsuchenden Person muss sich das SEM laut Gesetz auf die originalen Ausweispapiere, die gemachten Angaben sowie auf eine eventuelle ärztliche Begutachtung* abstützen. Meist bilden die gemachten Angaben die Hauptgrundlage für die Feststellung, ob eine asylsuchende Person minderjährig ist oder nicht. Denn dass Betroffene mit ihren Originalpapieren fliehen können, kommt selten vor.
Eine Analyse der Praxis des SEM zeigt, dass von den Asylsuchenden detaillierte und schlüssige Angaben zu ihren Lebensumständen erwartet werden. Ist dies nicht der Fall, werden ihre Aussagen als «vage», «stereotypisch» oder «emotionslos» eingestuft und ihre Schilderungen folglich als unglaubwürdig bezeichnet. Doch wann ist etwas unglaubwürdig?
Kultureller Hintergrund geht oft vergessen
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) ist von Unglaubwürdigkeit die Rede, wenn Aussagen in wesentlichen Punkten nicht genügend detailliert, präzise und konkret sind, Widersprüche enthalten und nicht der allgemeinen Lebenserfahrung der Person entsprechen.
Aus einigen Entscheiden des SEM geht hervor, dass es als Indiz für Unglaubwürdigkeit angesehen wird, wenn jemand anstatt seines genauen Geburtsdatums nur das Geburtsjahr kennt. Das exakte Todesdatum des Vaters nicht zu kennen oder nicht zu wissen, in welchem Alter der achte Bruder des Vaters verstarb, wird ebenfalls als ein Indiz für Unglaubwürdigkeit gewertet. Auch wer nicht genau sagen kann, wann er oder sie während der Migration in die verschiedenen Länder zwischen Afghanistan und der Schweiz (Iran, Türkei, Griechenland, Albanien, Montenegro, Bosnien, Kroatien, Slowenien und Italien) eingereist ist, kann als unglaubhaft eingestuft werden.
Solche Indizien für Unglaubwürdigkeit sollen allerdings mit grosser Zurückhaltung beurteilt werden. Denn die Angaben eines Jugendlichen hängen weitgehend von seinen kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ab. Diese werden wiederum durch erlebte Traumata sowie den jeweiligen soziokulturellen Hintergrund beeinflusst.
Darüber hinaus müssen sie im Zusammenhang mit bestimmten persönlichen und kulturellen Merkmalen eingeordnet werden. So ist das Alter einer Person in Afghanistan beispielsweise unwichtig, Geburtstage werden nicht gefeiert. Als Bezugspunkte für die zeitliche Orientierung einer Geburt werden religiöse Feiertage oder landwirtschaftsbezogene Ereignisse verwendet. In Burundi und der Elfenbeinküste wiederum ist beim Ausdruck von Emotionen Zurückhaltung geboten. Dem Schweigen wird in diesen Ländern hohe Bedeutung beigemessen.
Betrachten wir andere Entscheide, zieht das SEM bei der Altersbestimmung von Gesuchstellenden auch Vorfälle während der Flucht bei. Beispielsweise wenn der oder die UMA zuvor aus einem Flüchtlingscamp geflohen ist, gegen die dort geltenden Regeln verstossen hat oder vorgab, volljährig zu sein, um sich ohne Erlaubnis aus dem Camp entfernen zu können. Dies kann zu einer Einstufung als volljährig beitragen. In einigen Fällen wurde es zudem als Hinweis für Volljährigkeit gewertet, wenn sich jemand auf dem Migrationsweg als «einfallsreich» erwiesen oder während der Anhörung ein «selbstsicheres und souveränes Auftreten» gezeigt hat.
Ein UMA ist aber in erster Linie ein Kind oder ein Jugendlicher, also eine Person, die sich noch in der Entwicklungsphase befindet. Inwieweit ein Heranwachsender bereits erkennen kann, ob er unangemessene oder riskante Entscheidungen einst bereuen wird, hängt vom sozio-emotionalen Umfeld ab, in dem er sich befindet. Möglicherweise wird er die eigene Verletzlichkeit überspielen und sein wahres Alter verschleiern, wenn er damit einer für ihn unzumutbaren und risikoreichen Situation in einer Aufnahmeeinrichtung entgehen kann.
Minderjährige lassen sich leicht beeinflussen und neigen dazu, ihre Schilderungen je nach gestellten Fragen sowie entsprechend ihrer Kultur und ihres Bildungsstandes anzupassen. Angesichts ihrer Notlage kann es bei Jugendlichen auch zu Grenzüberschreitungen und riskantem Verhalten kommen.
Das Kind, der kulturelle Hintergrund und das Umfeld
Als Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter für UMA reichen wir bei der Caritas regelmässig Beschwerden gegen Entscheide des SEM ein. Damit weisen wir auf Fehlschlüsse in Bezug auf kinder- und kulturspezifische Eigenheiten hin. Als wir in der Vergangenheit mit einer Beschwerde erfolgreich waren, wurde vom BVGer anerkannt, dass «bereits kleine Kinder in der Lage sind, Tablets und Smartphones zu bedienen». Weil der eingangs erwähnte junge Asylsuchende sein Mobiltelefon bedienen kann, ist also weder automatisch davon auszugehen, dass er auch lesen und schreiben kann, noch dass er mündig ist.
Im Auftrag des Bundes übernimmt Caritas Schweiz die Rechtsvertretung und Rechtsberatung in der Asylregion Westschweiz und – zusammen mit der Organisation SOS Ticino – in der Region Tessin und Zentralschweiz. Die Altersbestimmung bei UMA ist eine äusserst komplexe Angelegenheit. Bei diesem Verfahren müssen verschiedenste Faktoren wie die Entwicklung des Kindes, interkulturelle Aspekte oder traumatische Erlebnisse berücksichtigt werden.
Ein interdisziplinärer und partizipativer Ansatz ist in diesen Verfahren angezeigt. So sollen Psychologinnen, Neurowissenschaftler, Expertinnen für Migrations- und Kinderrechte, Migrationsverbände, Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter sowie die zuständigen kantonalen und eidgenössischen Behörden einbezogen werden. Durch die Anwendung von Techniken des aktiven Zuhörens könnte ein solcher Ansatz den schutzsuchenden unbegleiteten Minderjährigen dabei helfen, sich stärker zu öffnen und ihre Emotionen und Erfahrungen preiszugeben. Ihre Bedürfnisse und ihre Vulnerabilität sind dabei stets im Auge zu behalten.
* Die Frage der ärztlichen Begutachtung, deren Ergebnisse umstritten sind, ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Weiterführende Informationen dazu finden Sie unter: www.paediatrieschweiz.ch
Geschrieben von Fanny Coulot
Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch
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Titelbild: © Christine Bärlocher/Ex-Press